PhobienAgoraphobie u.a. |
Klassifikationen teilen Phobien ein in die vor spezifischen Objekten (z.B. Hunde oder Katzen), vor bestimmten Situationen (z.B. vor Menschenansammlungen), oder solche, die vor Reaktionen auf Objekte oder Situationen bestehen (z.B. Brechphobie). Phobien sind meistens begleitet von Angstzuständen.
Unter den Phobien nimmt die Agoraphobie eine zentrale Stellung ein. Sie ist die häufigste und wohl schwerste Form der Phobie und tendiert oft dazu, sich auf immer mehr Situationen auszudehnen. Die Agoraphobie kann offene Plätze genauso wie Menschenansammlungen oder geschlossene Räume betreffen (somit beinhaltet sie die Klaustrophobie). Da gehäuft Angstanfälle auftreten, ähnelt sie unter den Phobien am meisten der Angstneurose.
Es gibt auch körperbezogene Phobien. Dazu zählt u.a. die Dysmorphophobie (die Angst, vor anderen missgestaltet zu erscheinen) und Krankheitsphobien wie beispielsweise die Karzinophobie oder die AIDS-Phobie. Bei diesen Phobien sind Angstanfälle seltener.
Die erlebte Angst des Phobikers steht in keinem Verhältnis zu den Anforderungen der Situation und kann nicht durch rationale Erklärungen beseitigt werden. Darüber hinaus liegt diese Angst jenseits der Kontrolle des Phobikers. Die Angst führt zur Vermeidung der gefürchteten Situation oder der gefürchteten Objekte.
Die Angst des Phobikers dauert meistens über lange Zeiträume an und ist gekennzeichnet durch häufiges Auftreten und / oder durch extreme Angst.
Während sich der Patient bei einem Angstanfall von etwas Unbekanntem, Ängstigendem bedroht fühlt, ist die phobische Angst an eine bestimmte ängstigende Situation, einen Ort, ein Tier etc. gebunden:
Angst vor dem Alleinsein (Monophobie), Angst in geschlossenen Räumen (Klaustrophobie), Angst auf Straßen und Plätzen (Agoraphobie), Angst vor bestimmten Tieren (Hunde-, Schlangen-, Spinnenphobie), Angst vor dem Erröten (Erythrophobie), Angst in Gruppen von Menschen (Soziophobie) und viele andere.
Da die Angst an spezifische Situationen gebunden ist, ist es möglich, die Angstorte zu umgehen (phobische Vermeidung). Diese Vermeidung der spezifischen Situation führt aber zu einer zunehmenden Einengung des Bewegungsspielraums der betroffenen Person. "Was bleibt, ist - ähnlich wie beim Angstanfall - die Angst vor der Angst, die ängstliche Erwartung des drohenden Symptoms" (Rudolf, 1996, S. 185).
Phobiker bauen sich ein Sicherheitssystem auf, dass aus sicheren Orten und Sicherheit spendenden Personen besteht. Beispielsweise weiß der Agoraphobe, der belebte Hauptstraßen nur mit Mühe aufsuchen kann, mehrere Geschäfte, Apotheken oder Arztpraxen, die er im Notfall aufsuchen kann, wenn die Angst zunimmt.
Die Gegenwart vertrauter Menschen wirkt meistens angstmindernd (hauptsächlich des Partners und von Kindern). In der Not hilft auch ein Tier (z.B. ein Hund), oder die Medikamentenschachtel, die immer mitgeführt wird. Die Angst verstärkt sich, wenn der Phobiker sich von dem sicheren Ort oder von der Sicherheit spendenden Person entfernt.
Der Leidensdruck eines Angstanfalls kann sehr schwer gemindert werden und führt häufig zu Suizidgedanken, während es sich mit einer Phobie leben lässt. "Der Verzicht auf ein nach außen gerichtetes Leben, die Konzentration auf den engeren häuslichen Bereich und die verlässliche Präsenz eines angstmindernden Begleiters bilden ein Arrangement, das u. U. zusätzlich sekundären Krankheitsgewinn bietet (z. B. durch die Kontrolle über die Familienangehörigen und den eigenen Anspruch auf Schonung und Rücksicht).
"Eine Patientin hat eine Zahnarztphobie von solchen Ausmaßen entwickelt, dass es ihr über viele Jahre hinweg unmöglich ist, ihre Zähne behandeln zu lassen. Das Symptom war sehr vielschichtig determiniert: Im Vordergrund stand ein Schamthema ("Wenn ich den Mund aufmache, sieht der Zahnarzt, wie schlecht ich beschaffen bin"). Darin ist freilich auch eine Näheangst enthalten ("Wenn jemand mir nahe kommt"), aber auch die Angst vor der eigenen oralen Aggressivität ("Wenn ich den Mund aufmache"); ebenso ängstigend war das Sich-Ausliefern im Zahnarztstuhl ("Wenn der mich umkippt"), also die Angst vor einer erotisch getönten Hingabe, verbunden mit der Angst vor dem Mann, der mit dem Bohrer in sie eindringt und ihr Schmerzen zufügt, die Angst vor der phallischen Aktivität des Mannes, eine Angst, die angesichts der eigenen aggressiven Wehrlosigkeit und in ihrem Erleben ihrer "mangelhaften" (nicht-männlichen) Ausstattung verstärkt wurde. Die Beispiele ließen sich vermehren, sie zeigen, wie viele konflikthafte Themen an der Symptombildung beteiligt sein können" (Rudolf, 1996, S. 187).
"Angst ist physiologisch ein Problem der Aktivierung, die nicht abklingt oder erlischt, sondern gebahnt wird (auf geringe Reize hin wieder anspricht) bzw. zu einem Dauerzustand wird" (Rudolf, 1996, S. 186).
Leicht zu verstehen ist das psychoanalytische Grundkonzept: Angst (z.B. Angst vor Verlust der geliebten Person) führt zu Verdrängung (z.B. von eigenen schlechten Impulsen, die die Person veranlassen könnten, sich abzuwenden). Wird die Verdrängung gelockert und die verdrängten Impulse tauchen wieder auf, taucht das dazugehörige Gefühl der Angst auch wieder auf.
In diesem Zusammenhang sind unterschiedliche Ängste möglich: Die Angst vor der eigenen Triebhaftigkeit oder die Angst vor Kontrollverlust, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst, die Liebe der Bezugsperson zu verlieren und die Angst von der Bezugsperson, die einen enttäuscht hat, bestraft, verfolgt oder beschädigt zu werden. Weitgehend sind diese Ängste unbewusst und lassen sich im therapeutischen Prozess erschließen. Dabei haben diese Ängste keinen Symptomcharakter, sondern sind Bestandteil psychischer Mechanismen zur Regulation. Wird die Angst zum bewusst erlebten Symptom, hat dieser Regulationsmechanismus versagt.
"Bei der Entstehung von Angstsymptomen gelingt es, die Vorstellungsinhalte der Bedürfnisse weiterhin beiseite zu halten, während die Erregungsanteile in das Bewusstsein dringen. Der Betreffende spürt, dass etwas andrängt, aber er weiß nicht genau, was es ist. Angst entsteht also unter dem Druck des Ungelebten, der nicht realisierten und erprobten Möglichkeiten. Wenn diese Möglichkeiten gelebt würden, brächten sie Risiken, Veränderungen, Gefährdung des Vertrauten, Unruhe und Umorientierung im eigenen Leben und in der Beziehung zu anderen Menschen. Sie bedeuten damit eine große Beunruhigung speziell für solche Menschen, die sich auf Sicherheit und Risikofreiheit angewiesen fühlen und die unbewusst auf die Befriedigung regressiver Wünsche (nach Sicherheit, Geborgenheit, symbiotischer Beziehung) ausgerichtet sind" (a.a.O., S. 186-187).
Festzustellen ist also ein Konflikt zwischen dem Wunsch nach Autonomie und dem Wunsch nach Abhängigkeit bzw. Geborgenheit. Das Symptom der Angst stellt einen Kompromiss in dem Konflikt zwischen Autonomie und Abhängigkeit dar. Die erregte Seite äußert sich in der körperlichen Erregung, die bei Angst auftritt, und die ängstigenden Phantasien äußern sich in den Befürchtungen.
Bei der Symptombildung der Phobie ist das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren noch komplizierter: "Die Angstsituation (Straße, Zimmer, Hund, Schlange usw.) wird als Projektionsort für die verdrängten Regungen genommen (z. B. die oral-aggressiven Impulse beider Hundephobie oder die Weglaufimpulse bei der Straßenangst). Das Angstthema sitzt nun nicht mehr innen, sondern außen und kann dort vermieden werden. Allerdings ist die Angstsituation (die Straße, der Hund, die Spinne usw.) symbolisch überdeterminiert, so dass einfache Entschlüsselungen (Hund = Aggression) sich verbieten" (a.a.O., S. 187).
Dipl.-Psych. Volker Drewes
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