EssstörungenBulimie und Magersucht |
Es wird häufig diskutiert, dass die Häufigkeit von Magersucht (eine der gravierendsten Essstörungen) in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, doch eindeutig ist es durch Studien nicht zu belegen. Es liegen kaum repräsentative Stichproben vor. Nachgewiesen sind höhere Behandlungszahlen in den westlichen Industrieländern. Der Grund dafür könnte auch eine Veränderung des Krankheitsverhaltens und des Behandlungsangebotes sein. Schätzungen zur Erkrankungshäufigkeit für die Risikogruppe (Frauen zwischen 15 und 25 Jahren) schwanken zwischen 0,1% (SCHEPANK 1991) und 4% (Russel 1977, je nach diagnostischen Kriterien, die der Untersuchung zugrunde lagen.
Köhle und Simmons (1990) ermittelten Zahlen, die die Häufigkeit der jährlichen Erkrankungen mit 0,1 bis 0,6 pro 100.000 Einwohner, bzw. zwischen 50 und 75 Patienten von 100.000 Personen, die der Risikogruppe angehören. Magersucht ist vorwiegend eine Erkrankung junger Frauen und Mädchen der Mittel- und Oberschicht.
Gängiges Klassifikationssystem:
Gewichtsverlust durch:
Das auffälligste Symptom der Magersucht ist der extreme Gewichtsverlust, wobei die Magersüchtigen selber das Gefühl haben, zu dick zu sein. Obwohl durchaus auch Hungergefühle vorhanden sind, wird die Aufnahme von Nahrung verweigert oder es werden nur geringste Mengen kalorienarmer Nahrung zugeführt.
Häufig versorgen sie dafür andere reichlich mit oft selber zubereitetem Essen oder stellen sich Essen vor, indem sie Kochbücher lesen und Rezepte sammeln.
Typischerweise ist auch eine auffallende Hyperaktivität festzustellen. Selbst wenn sie schon sehr abgemagert sind, sind sie rastlos und getrieben. Bei einem Großteil der Magersüchtigen besteht die Tendenz zu sozialem Rückzug, der oft damit begründet wird, dass man hart für Schule, Beruf oder Studium arbeiten müsse. Meist bringen die normal bis überdurchschnittlich intelligenten Patienten, so lange es der körperliche Zustand noch erlaubt, sehr gute Leistungen.
Oft herrscht geringes Interesse an sexuellen Kontakten. Die Körperlichkeit wird in allen triebhaften und bedürftigen Aspekten abgelehnt.
Durch die Mangelernährung und den fortschreitenden Gewichtsverlust kommt es zu körperlichen Folgeerscheinungen.
Die Krankheit kann auch zum Tod führen. Langzeituntersuchungen ergaben Sterberaten zwischen 5 und 18%.
Bei den Patienten findet sich selten ein dramatischer äußerer Anlass, der die Krankheitsentwicklung bedingt hat.
Die Krankheit, die meist in der Pubertät beginnt, kann als Reaktion auf entwicklungsbedingte Anforderungen gesehen werden. Dazu gehören Auseinandersetzung mit der körperlichen Reifung, Übernahme und Entwicklung von Geschlechtsrollen und Suche nach einer beruflichen Identität. Damit verbunden ist die Loslösung von den Eltern und das Eingehen neuer, andersgearteter Beziehungen zu Gleichaltrigen.
Diese Entwicklungsschritte gehen immer mit einer Erschütterung einher. Die Reaktion des magersüchtigen Patienten kann allerdings als defensives und konstantes "Nein" den Spannungen der Pubertät gegenüber angesehen werden. "Der 'goldene Käfig der Magersucht' (Bruch 1978) ist immer auch einer, der ein sich Hinauswagen, sich Auseinandersetzen, Trennen und Neubeginnen ersparen soll" (Rudolf, 1996, S. 207).
Bei Patienten, bei denen die Magersucht erst im Erwachsenenalter auftritt, lassen sich die gleichen typischen Konflikte feststellen wie bei der Pubertätsmagersucht. Es sind vorwiegend Konflikte zwischen Autonomie und Abhängigkeit, Nähe und Distanz oder Konflikte im Zusammenhang mit Selbstbehauptung und Machtanspruch.
Zusammenhänge von Magersucht und der Abwehr der weiblichen Identität
Da Magersucht vorwiegend eine Krankheit junger Frauen und Mädchen ist, bleiben in den folgenden Abschnitten männliche Patienten unberücksichtigt. (Literatur hierzu: BURZIG, G.: Psychoanalytische Gesichtspunkte bei männlichen Anorexia-nervosa-Patienten. In: Speidel, H., Strauß, B. (Hrsg.): Zukunftsaufgaben der Psychosomatik, Springer, Berlin 1989, S. 208-214)
Die Übernahme und Anerkennung der Rolle als Frau bringt für die Patientinnen eine Reihe von Schwierigkeiten und wird von ihnen in kindhafter Weise abgelehnt. Selbständig zu werden würde bedeuten, die Eltern aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Magersuchtpatientinnen sind aber - mehr oder weniger bewusst - von einem stillen Groll (meistens gegen ihre Mutter), nicht genügend bekommen zu haben und generell schlechter ausgestattet zu sein, beherrscht. Die weibliche Rolle einzunehmen, wird von ihnen als weitere Anforderung erlebt und ist mit der Angst verbunden, auf die berechtigten Ansprüche, die ein Kind an seine Eltern hat, verzichten zu müssen. Mit der sexuellen Reifung ändert sich ebenso das Verhältnis zu beiden Elternteilen. Die sexuellen Triebimpulse werden auf die orale Ebene verschoben und dort, als weiterer Abwehrschritt, durch Hungern bekämpft.
Das Entwickeln eines asexuellen Ich-Ideals kann auch als Abwehr gegen das Bewusstwerden sexueller Triebe gesehen werden, die eine Trennung von den Eltern und eine Hinwendung zu anderen Liebespartnern beinhalten würde.
"Durch das Aushungern des weiblichen Körpers, mit dem auch eine Verkümmerung weiblicher Funktionen verbunden ist, haben die Patientinnen im Symptom eine Möglichkeit gefunden, die anderen auf Distanz zu halten, u. U. auch machtlos zu machen, ohne sie aber verlieren zu müssen (Willenberg 1991)" (Rudolf, 1996, S. 208).
Orale Ambivalenz
Das Denken und das Verhalten magersüchtiger Patienten wird im Verlauf der Krankheit zunehmend durch Inhalte der oralen Entwicklungsstufe (siehe bei Beziehungsmodelle, WILLI, Darstellung der oralen Phase) bestimmt. Unbewusst wird die Nahrungsaufnahme einerseits als Verschmelzung mit einer zwiespältig geliebten Bezugsperson, andererseits mit deren Zerstörung erlebt. Beides bedroht das instabile Ich: Entweder durch Verlust der Identität oder durch Verlust der geliebten Person. Der Liebesanspruch (in diesem Fall in Form des Nahrungsbedürfnisses) wird daher als zerstörerisch erlebt und aus diesem Grund vermieden. Aus dieser so genannten oralen Ambivalenz entsteht ein Schuldgefühl, was verstärkt wird durch oralen Neid und Aggressionen. Diesen Gefühlen begegnen die Patientinnen mit strikter Nahrungsabstinenz, die so gesehen, schützenden und selbstbestrafenden Charakter hat.
Asketische Idealbildung
Magersüchtige haben ein tiefsitzendes Gefühl, den Konflikten und Aufgaben, die aus den Reifungsanforderungen resultieren, nicht gewachsen zu sein. Sie legen die eigene Bedürftigkeit als Schwäche aus und erwarten von ihren Mitmenschen aus demselben Grund Verachtung. Daher ist es ihnen nicht möglich, sich an andere als potentielle Helfer zu wenden. Daher machen sie aus der Not eine Tugend und propagieren Bedürfnislosigkeit. Sie entwickeln eine ablehnende Haltung gegen alles Triebhafte, und sie verleugnen eigene Ansprüche. Diese werden vielmehr an anderen wahrgenommen, die Ansprüche an sie herantragen. Meistens haben sie weder Krankheitsgefühl noch Krankheitseinsicht.
Der Körper als Bezugsperson
Je mehr sich die Patientinnen von anderen Menschen zurückziehen, desto mehr wird ihnen der eigene Körper als Bezugspunkt wichtig. Dabei spaltet sich die Wahrnehmung des eigenen Körpers in einen erlebenden Selbstanteil und einen distanziert wahrgenommenen Aspekt des Körpers: Der magere, untergewichtige Körper repräsentiert eine gute Bezugsperson, mit dem vereint ein Hochgefühl von Allmacht entsteht (dieses Hochgefühl macht es auch verständlich, dass die Patientinnen die Lebensbedrohung der Krankheit nicht erkennen können. Droht aber der Körper real oder im Erleben der Patientin, normal oder übergewichtig zu werden, steht er für eine böse, verschlingende und die eigene Autonomie bedrohende Person. Da diese körperlichen Zustände von der Person selbst herbeigeführt werden und als manipulierbar und nicht wirklich zum eigenen Selbst zugehörig erlebt werden, kommt es dem großen Bedürfnis der Patientinnen nach Selbstbestimmung entgegen.
Aufgrund der Komplexität der für die Krankheitsentstehung und Entwicklung wirksamen Faktoren ist es wichtig, dass die Faktoren auch in ihrer Wirkung aufeinander dargestellt werden. Man unterscheidet (Fichter 1985) anlagebedingte bzw. begünstigende Faktoren, auslösende Ereignisse, Bewältigungsversuche durch den Einzelnen und das soziale Umfeld und Faktoren, die zur Festigung der Krankheit beitragen.
Die anlagebedingten Faktoren sind schon vor dem Krankheitsbeginn wirksam. Es können soziokulturelle, soziale und krankheitserregend wirkende familiäre Einflüsse, sowie individuell-psychologische, biologische und erblich bedingte Faktoren unter den Begriff der anlagebedingten Faktoren gefasst werden.
Für eine erbliche Bedingtheit sprechen Zwillingsuntersuchungen. Darüber hinaus werden auch Geburtskomplikationen mit damit verbundenen Hirnschädigungen diskutiert. Es gibt aber noch keine gesicherten Forschungsergebnisse zu diesen Vermutungen.
Aus psychoanalytischer Sicht bietet sich eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung an. Das Augenmerk liegt auf konflikthaften und defizitären Verläufen der Selbstentwicklung und der Entwicklung von Beziehungen zu anderen Menschen. Meist geht man von Störungen in der frühen Phase der kindlichen Entwicklung aus, die weiter Schäden im Entwicklungsverlauf nach sich ziehen bzw. Entwicklungsbeeinträchtigungen verursachen.
Die familientherapeutische Seite betont die Wirkung gestörter und krankmachender familiärer Beziehungen. Gekennzeichnet sind solche Familien durch ihre enge Verflechtung und eine ausgeprägte Starrheit der Familienorganisation. Dies erschwert eine flexible Konfliktlösung. Untersuchungen zeigen aber, dass diese Familienstruktur nicht spezifisch für die Familien Magersüchtiger ist. Es gibt keine typische Magersuchtsfamilie, doch kann solch eine Familienstruktur die Wahrscheinlichkeit des Krankheitsausbruchs erhöhen.
Damit die Krankheit auftritt, bedarf es noch bestimmter auslösender Ereignisse, wie beispielsweise Trennungs- oder Verlusterlebnisse oder der Beginn der Pubertät. Die Krankheit kann entweder als Zusammenbruch eines bisher schon labilen Gleichgewichts angesehen werden oder aber auch als Versuch, die aktuellen Belastungen zu bewältigen. In der Literatur wird betont, dass durch die Krankheit innere und äußere Konflikte auf die Problematik des Essens verschoben werden und sich die Magersüchtigen auf diese Weise darum bemühen, ihr angeschlagenes Selbstbewusstsein wiederherzustellen.
Aufgrund der Komplexität der Krankheit ist es nicht möglich, ein einheitliches Modell der Krankheitsursachen aufzustellen. Im günstigsten Fall ist es hinterher möglich, die Bedeutung der einzelnen Faktoren aufzuschlüsseln, und je nach der herrschenden Lehrmeinung wird die Schwerpunktsetzung eine unterschiedliche sein, was eine große Bedeutung für die Wahl der therapeutischen Maßnahmen hat.
Ein grundlegendes Problem der Therapie von Magersucht ist, dass die Patienten ihre Krankheit nicht als Problem, sondern vielmehr als Lösung ihres Problems sehen. Unsicherheiten und Mängel der eigenen Identitätsentwicklung wirken sich in der Krankheit durch die Verneinung eigener Bedürfnisse aus und sind identitätsstiftend. Die genügsame Lebensweise wird zum Ideal erhoben. Aus diesen Gründen herrscht meist kein Krankheitsgefühl und keine Krankheitseinsicht. Die Therapiemotivation ist dementsprechend gering.
Der Therapeut befindet sich in einem Dilemma: Achtet er den Willen seiner Patienten, unterstützt er die selbstzerstörerische Lebensweise, doch besteht er auf Behandlung, auch gegen den Willen der Patienten, werden sie ihm jegliche Mitarbeit verweigern.
Hinzu kommt, dass es mit einer bloßen Gewichtszunahme nicht getan ist.
Ziel der therapievorbereitenden Gespräche muss daher sein, sich mit der Patientin darauf zu verständigen, dass das magersüchtige Verhalten Ausdruck einer psychischen Notlage ist, dessen psychotherapeutische Bearbeitung lohnenswert sein kann.
Gängige Klassifikationskriterien:
Charakteristisch für das Krankheitsbild sind die episodisch wiederkehrenden Heißhungeranfälle. Die Patienten essen bei diesen Anfällen große Mengen hochkalorienhaltiger Nahrungsmittel (Die Kalorienanzahl wird pro Anzahl bei 3000-4000 Kalorien angegeben, in Einzelfällen bis zu 10000 Kalorien).
Gegessen wird in der Regel in aller Heimlichkeit. Zu Beginn ist das Essen noch gewollt, doch es ist typisch, dass sie während des Essens ein Gefühl des Kontrollverlustes erleben.
Das Essen endet, wenn die Kapazitäten erschöpft sind und wird meist durch selbst herbeigeführtes Erbrechen beendet. Das hat häufig den Zweck, eine Gewichtszunahme zu vermeiden. Die Abfolge von Essen und Erbrechen kann sich mehrmalig wiederholen, bis zur totalen Erschöpfung.
Dem Eßanfall folgt meist eine deprimierte Stimmung. Es stellt sich ein typisches Gefühl der Leere ein, das dem Eßanfall vorausging. Sie schämen sich für ihr impulshaftes Verhalten.
"Scham und Heimlichkeit, Selbstverachtung und Depressivität führen zu einer zunehmenden sozialen Isolation. Die enormen Kosten für Nahrungsmittel bedingen oft finanzielle Schwierigkeiten. Der Verlauf ist meist chronisch. Heißhungeranfälle wechseln sich ab mit Phasen normalen Essens und Phasen restriktiver Diäten. Oft dauert es Jahre, bis sich die Patientinnen um professionelle Hilfe bemühen" (Rudolf, 1996, S. 213).
Es treten körperliche Folgeerscheinungen als Resultat des gewohnheitsmäßigen Überessens und Erbrechens auf.
Bulimiepatienten verfügen über eine Krankheitseinsicht.
Gewichtsprobleme und Unzufriedenheit werden häufig als bewusstes Motiv für den Einstieg in die Krankheit genannt. Oft erwähnen die Patientinnen Freundinnen, die sich ebenfalls erbrechen oder Medien, die sie auf diese Form der Gewichtsregulation aufmerksam gemacht haben.
Im Vorfeld der Krankheit finden sich häufig Ablösungskonflikte von den Eltern, Beziehungsprobleme oder Trennungen. Aber auch persönliche Erfolge, wie ein bestandenes Examen, sind im Vorfeld der Krankheit festzustellen.
Die Krankheit entwickelt in ihrem Verlauf eine Eigendynamik, und die Auslöser verlieren an Bedeutung. Es genügen dann oft nach außen hin geringfügige Anlässe, um die Symptomatik auszulösen (z.B. wenn etwas nicht auf Anhieb klappt). Solche Situationen werden, ob sie nun real existieren oder nur eingebildet sind, als Kränkung empfunden. Dies löst bei den Patientinnen ungerichtete Ängstlichkeit, Verlassenheitsgefühle oder Wut aus.
Typisch für Bulimiekranke sind starre Norm- und Wertvorstellungen, die die freie Äußerung von Gefühlen nicht erlauben. Darüber hinaus widerspricht es dem eigenen Autonomie-Ideal, bedürftig und verletzlich zu sein. Die Auseinandersetzung mit der Konfliktsituation wird vermieden und mit einem inneren oder äußeren Rückzug beantwortet. Anstelle der Ängstlichkeit und Wut entsteht ein Gefühl der Leere und Entfremdung.
Durch die Krankheit werden die Konflikte auf den Bereich der Nahrungsaufnahme verschoben. "Essen und die gedankliche Beschäftigung mit dem Essen im Sinne von Entschädigung, Trost oder Belohnung werden zum Garant für Sicherheit und innere Befriedigung. Sie helfen, eine Gegenwelt zur enttäuschenden Realität aufzubauen" (Rudolf, 1996, S. 215). Doch Entlastung durch Nahrungsaufnahme ist nicht möglich, da Gewichtszunahme dem weiblichen Körperideal widersprechen würde. Um die Bedürftigkeit auch in diesem Bereich in ihre Schranken zu verweisen, müssen Strategien zur Gewichtskontrolle entwickelt werden.
"Man könnte formulieren, dass der sich im bulimischen Verhalten manifestierende Triebdurchbruch und die sich zeigende Bedürftigkeit nur unter der Bedingung des Anfalls, als einem quasi autonom ablaufenden Geschehen, möglich und für die Betroffenen z. T. auch entschuldbar sind" (a.a.O., S. 215).
Bulimische Patientinnen zeigen sich nach außen eher überangepasst, leistungsorientiert und sehr kontrolliert. Während ihres Eßanfalles kommt es zu einem Durchbruch des Impulshaften, wobei das Wissen, den ganzen Vorgang durch späteres Erbrechen wieder rückgängig machen zu können, der einzig feste Punkt der eigenen Person zu sein scheint.
Zu Beginn der Krankheit überwiegen oft lustvolle Aspekte, was sich vor allem in der Vorfreude auf das Essen zeigt, aber auch im Akt des Essens. Bedeutsam ist, dass sie diese lustvollen Aspekte letztlich nicht genießen können. "Es kommt zu einem Wechsel der Erlebnisperspektive vom Täter zum Opfer, wobei der damit verbundene Kontrollverlust als bedrohlich erlebt wird" (Rudolf, 1998, S. 216).
Auslösend sind hier wahrscheinlich die begrenzenden Körpersignale. Das anfänglich lustvolle Erleben des Essens verwandelt sich mit zunehmender Füllung des Magens in eine gegen das Selbst gerichtete Kraft. Das Essen wird mit Gewalt hereingewürgt. Der Vorgang des Erbrechens soll das Ganze ungeschehen machen.
Man kann den bulimischen Akt auch als Inszenierung eines Grundkonfliktes interpretieren. Thema ist das Streben nach Selbstwerdung mit eigener Identität und nach sicherer Abgegrenztheit. Gleichzeitig existiert eine Sehnsucht nach grenzenloser Verbundenheit. Es gibt keine Lösung für diesen Konflikt, so muss das Stück endlos wiederholt werden. Die Nahrung bekommt dabei die Bedeutung einer Bezugsperson. In der Literatur zu dem Thema wird betont, dass die Nahrung mit dem inneren Bild der Mutter verbunden ist. Doch im Verlauf der Krankheit kann sich die Bedeutung der Nahrung verändern, daher ist eine starre Bedeutungszuschreibung unzweckmäßig.
Nahrung ist zunächst für die Patientinnen eine verfügbare und kontrollierbare Substanz (Vergleichbar mit einem Übergangsobjekt der Kindheit) und wird wegen der tröstenden Wirkung herangezogen. Auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen verkörpert die im Verlauf der Krankheit zunehmende Gier Anklammerungswünsche und Wut über enttäuschende Beziehungserfahrungen. Der Beziehungspartner (Repräsentant dieser Person ist die Nahrung) soll in den eigenen Besitz gebracht und einverleibt werden, um wieder eins mit ihm zu sein.
Doch diese Aufhebung der Grenzen ist auch mit einer Gefahr für die eigene Identität verbunden. Sie können sich nicht mehr als eigenständige und abgegrenzte Individuen erleben.
Haben sie sich die Nahrung einverleibt, ist sie auch nicht mehr kontrollierbar und droht die Grenzen aufzuheben. Die Nahrung wird von etwas Verfügbarem zu einer verfügenden Substanz, über die die Kontrolle verloren wurde.
Aus dieser Konfliktsituation befreien sie sich, indem sie den Körper als etwas nicht zu sich gehörendes erschaffen. Er wird zu etwas schlechtem, wird verabscheut, indem er als fett, ekelhaft und schmutzig erlebt wird, daher Aggression, Bestrafung und Schuld auf sich zieht und dazu gezwungen werden muss, die Nahrung wieder herzugeben. Mit dem Erbrechen soll der Ausgangszustand wiederhergestellt werden. Die Kontrolle soll wiedererlangt werden. Nahrung wird wieder zu etwas kontrollierbarem und verfügbarem.
Wenn der Anfall vorbei ist, die letzten Spuren beseitigt, der Rausch vorbei, ist die Betroffene wieder mit sich allein und verspürt Scham, Reue und Einsamkeit. Bulimikerinnen nehmen sich vor, so etwas nie mehr zu tun und haben das Wissen, dass sie diese Erfahrung letztlich mit niemandem besprechen können. Dieser Rückzug legt die Weichen für den nächsten Anfall.
Bulimiepatienten fassen eine sehr heterogene Gruppe zusammen. Außerdem ist die Abgrenzung zur Magersucht in den Übergangsbereichen schwierig. Bislang gibt es kein einheitliches Erklärungsmodell für Bulimie. Das Wissen über anlagebedingte, auslösende und krankheitsfestigende Faktoren ist noch gering.
Zu den diskutierten Einflüssen, die die Empfänglichkeit für die Krankheit steigern, gehören der familiäre und soziale Kontext der Kranken, sowie die individuell-biologischen und die Erbsubstanz betreffenden Faktoren.
Die hohe Erkrankungshäufigkeit junger Frauen und Mädchen in westlich orientierten Industrieländern weist auf soziokulturelle und soziale Einflüsse hin.
Die Bedeutung des individuell-psychologischen und familiären Kontextes gestaltet sich schwierig. Diskutiert wird, dass Bulimie-Patienten nicht gelernt haben, eigene Bedürfnisse richtig wahrzunehmen und durchzusetzen. Soziale Fertigkeiten sind nicht ausreichend ausgebildet, und wegen ihres geringen Selbstwertgefühls und der Angst, die Zuneigung anderer leicht zu verlieren, richten sie sich übertrieben nach den Forderungen anderer Menschen.
Eine empirische Untersuchung von Fichter und Haberger (1990) fand in der Vorgeschichte bulimischer Frauen überzufällig häufig sexuelle Übergriffe und sexuellen Missbrauch.
Psychoanalytische Ansätze suchen die Ursachen in konflikthaften oder von Mangelerlebnissen geprägten Entwicklungsverläufen der Kindheit.
Als krankheitsauslösend nimmt man Belastungsmomente wie Trennungen, Beziehungsprobleme oder allgemein kritische Lebensereignisse an. Die krankheitsfestigenden Faktoren kann man als einen sich selbst erhaltenden Kreislauf beschreiben: Ursprünglich sollte das bulimische Verhalten dazu dienen, ein besseres emotionales Gleichgewicht herzustellen; es führt aber zu körperlichen und psychischen Veränderungen, die bald eine Eigendynamik entfalten. Der Körper passt sich an die veränderte Nahrungsaufnahme an, und als Folge der Heißhungeranfälle und der ausgleichenden gewichtsregulierenden Maßnahmen kommt es zu körperlichen Folgeerscheinungen, wie erniedrigtem Blutdruck und Puls, Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit u.a., die wiederum auf den psychischen Zustand zurückwirken und zu einer Verstärkung des Symptoms führen.
Da die Patientengruppe ein sehr vielfältiges Bild abgibt, sind auch die Behandlungsmöglichkeiten vielfältig. Es empfiehlt sich meistens ein symptom- und konfliktzentriertes Vorgehen. Bei schwer erkrankten Patienten ist es empfehlenswert, dieses stationär einzuleiten.
Problematisch ist, dass sich viele Patienten erst nach Jahren, wenn die Störung bereits chronisch ist, an professionelle Hilfe wenden. "In dieser Zeit hat die bulimische Symptomatik im Erleben der Patientinnen, meist entkoppelt vom aktuellen Konflikt- und Beziehungsgeschehen, bereits eine Eigendynamik entwickelt, die ohne konkrete Hilfen auf der Symptomebene nur schwer zu durchbrechen ist. Zusätzlich ist eine konfliktzentrierte therapeutische Übersetzungsarbeit notwendig, um der Patientin den Rückbezug vom Symptomverhalten auf die zugrunde liegenden Problembereiche zu ermöglichen" (Rudolf, 1996, S. 219).
Bulimiker haben ihr Selbsterleben häufig in einen äußerlich angepassten und gut funktionierenden und in einen impulsgetriebenen Anteil gespalten. Ziel und Schwierigkeit der Therapie ist es, die Integration beider Anteile zu ermöglichen. Schwierig ist es, wenn die Patienten in der Therapie die Spaltungsbemühungen aufrechterhalten.
Die jeweilige Akzentsetzung der Therapie wird entschieden, je nachdem, welche der genannten Faktoren bei der jeweiligen Person wirksam sind.
Bei Personen, die unter Essstörungen leiden, werden häufig Schäden an den Zähnen festgestellt, die durch regelmäßige Säureeinwirkung entstanden sind.
Zu einer schädigenden Säureeinwirkung auf die Zähne kommt es bei regelmäßigem Erbrechen und auch bei übermäßigem Verzehr von säurehaltigen Nahrungsmitteln (z.B. Obst, Diätlimonade). Viele der Betroffenen wissen leider nicht um die Gefahr, der sie ihre Zähne aussetzten und auch nicht wie sie sie davor schützen könnten. Da der Verlust an Zahnsubstanz langsam fortschreitet, werden die Schäden meist zu spät bemerkt.
Dipl.-Psych. Volker Drewes
Kollwitzstr. 41
10405 Berlin
Navigation
Über www.beratung-therapie.de