Komplexe Handlungssituationen sind komplexe, vernetzte, intransparente und dynamische Situationen.
"Komplexität, Intransparenz, Dynamik, Vernetztheit und Unvollständigkeit oder Falschheit der Kenntnisse über das jeweilige System: dies sind die allgemeinen Merkmale der Handlungssituationen beim Umgang mit solchen Systemen" (Dörner, 1993, S. 59). Mit diesen Merkmalen muß man umgehen, und aus ihnen ergeben sich viele spezifische Anforderungen an den Handelnden.
zu a. Komplexität
Komplexe Entscheidungssituationen kennzeichnen eine große Anzahl von Merkmalen.
Man muß viele Merkmale auf einmal beachten, um der Situation gerecht zu
werden, und man muß zusätzlich berücksichtigen, daß die
verschiedenen Variablen des Systems nicht unabhängig voneinander sind,
sondern sich wechselseitig beeinflussen. "Die Existenz von vielen, voneinander
abhängigen Merkmalen in einem Ausschnitt der Realität wollen wir als
>Komplexität< bezeichnen. Die Komplexität eines Realitätsausschnitts
ist also um so höher, je mehr Merkmale vorhanden sind und je mehr diese
voneinander abhängig sind. Der Grad an Komplexität ergibt sich also
aus dem Ausmaß, in dem verschiedene Aspekte eines Realitätsauschnittes
und ihre Verbindungen beachtet werden müssen, um eine Situation in dem
jeweiligen Realitätsausschnitt zu erfassen und Handlungen zu planen"
(Dörner, 1992, S. 60). Viele Merkmale allein machen nicht die Komplexität
aus. Komplex ist ein System erst dann, wenn die verschiedenen Merkmale verknüpft
sind, d.h. sich untereinander beeinflussen. Das macht die gleichzeitige Beachtung
vieler Merkmale notwendig.
zu b. Dynamik
In dynamischen Systemen folgt nicht eine Handlung auf die andere, sondern die
Auswirkungen einer Handlung entwickeln sich weiter. Die Realitätsauschnitte
sind nicht passiv, sondern in gewissem Maß aktiv. Dies erzeugt unter anderem
Zeitdruck. So muß man sich wegen des Zeitdrucks auch manchmal beim Planen
mit Ungefährlösungen zufrieden geben. Manchmal muß man darauf
verzichten, alle Informationen zu sammeln, die einem zur Lösung zur Verfügung
stehen könnten, da es der Zeitdruck nicht erlaubt. Die Eigendynamik dieser
Systeme macht es notwendig, ihre Entwicklungstendenzen zu erfassen. Bei einem
dynamischen System reicht es nicht aus, bloße offen liegende Tatsachen
zu erfassen, sondern man muß zusätzlich versuchen herauszufinden,
wohin das System will. Die Analyse der augenblicklichen Gegebenheiten reicht
nicht aus.
zu c. Intransparenz
Die Intransparenz einer Situation ist eine weitere Quelle von Unsicherheiten
in Planungs- und Entscheidungssituationen.
Die Intransparenz einer Situation bedeutet, daß nicht alles sichtbar ist, was man sehen will. "Viele Merkmale der Situation sind demjenigen, der zu planen hat, der Entscheidungen zu treffen hat, gar nicht oder nicht unmittelbar zugänglich. Er steht also - bildlich gesprochen - vor einer Milchglasscheibe. Er hat Entscheidungen hinsichtlich eines Systems zu fällen, dessen augenblickliche Merkmale er nur zum Teil, nur unklar, schemenhaft, verwaschen sehen kann - oder aber auch gar nicht" (Dörner, 1992, S. 63-64).
Selbst wenn man genaue Kenntnis über die Systemstruktur hat, ist meistens in komplexen Handlungssituationen nicht genau klar, welche Situation im Moment vorhanden ist.
zu d. Unkenntnis und falsche Hypothesen
"Wenn man in einer komplexen und dynamischen Situation operieren möchte,
muß man nicht nur wissen, was der Fall ist. Man muß nicht nur die
Merkmale der augenblicklich gegebenen Situation kennen, sondern man muß
auch etwas wissen über die Struktur des Systems. Die augenblickliche Situation
mit ihren Merkmalen ist ja nur der jetzige Zustand des Systems und seiner Variablen.
Man muß nicht nur wissen, was der Fall ist, sondern auch, was in Zukunft
der Fall sein wird oder sein könnte, und man muß wissen, wie sich
die Situation in Abhängigkeit von bestimmten Eingriffen voraussichtlich
verändern wird" (Dörner, 1992, S. 64). Zu diesem Zweck braucht
man sogenanntes Strukturwissen. Strukturwissen ist Wissen über die Art
und Weise, wie die Variablen eines Systems zusammenhängen, und wie sie
sich gegenseitig beeinflussen (Im Idealfall hat man den gegenseitigen Einfluß
in Form einer mathematischen Formel).
Die Gesamtheit der einseitigen, wechselseitigen, einfachen oder komplizierten Zusammenhänge, die die Beteiligten im Kopf haben, nennt man Realitätsmodell. "Ein Realitätsmodell kann explizit, in bewußter, jederzeit abfragbarer Weise vorhanden sein oder auch implizit, also so, daß der Akteur selbst nicht weiß, daß er eine Annahme über einen bestimmten Zusammenhang im Kopf hat und schon gar nicht, wie diese Annahme aussieht. Solch implizites Wissen kommt häufig vor; man nennt es gewöhnlich “Intuition” oder sagt: “Für solche Dinge habe ich ein Gefühl.”" (a.a.O., S. 65).
Explizites und verbalisiertes Wissen muß auch nicht zwangsläufig Handlungswissen sein. Es kann als theoretisches Wissen vorhanden sein, ohne daß die Person fähig ist, dieses Wissen praktisch anzuwenden.
Das Realitätsmodell eines Handelnden kann nun richtig oder falsch, vollständig oder nicht sein. Anzunehmen ist, daß es gewöhnlich unvollständig wie auch falsch ist und es ist wichtig, sich auf diesen Fall einzustellen. Der Umgang mit unvollständigen und falschen Informationen und Hypothesen ist eine wichtige Anforderung an die Handelnden in komplexen Problemsituationen.
"Wenn wir dieses Kapitel anschaulich zusammenfassen wollen, so können wir sagen, daß ein Akteur in einer komplexen Handlungssituation einem Schachspieler gleicht, der mit einem Schachspiel spielen muß, welches sehr viele (etwa: einige Dutzend) Figuren aufweist, die mit Gummifäden aneinanderhängen, so daß es ihm unmöglich ist, nur eine Figur zu bewegen. Außerdem bewegen sich seine und des Gegners Figuren auch von allein, nach Regeln, die er nicht genau kennt oder über die er falsche Annahmen hat. Und obendrein befindet sich ein Teil der eigenen und der fremden Figuren im Nebel und ist nicht oder nur ungenau zu erkennen" (a.a.O., S. 66).
Dipl.-Psych. Volker Drewes
Kollwitzstr. 41
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