Wirksamkeitsforschung
Insgesamt gehen in die Wirksamkeitsprüfungen die Daten von ca. 4500 Patienten aus der klinischen Praxis ein. Von diesen wurden ca. 3000 Patienten unter gestalttherapeutischen Behandlungsbedingungen, die übrigen mit anderen therapeutischen Verfahren behandelt oder blieben als Kontrolle unbehandelt. Tabelle 1 enthält außerdem 176 Einzelfallberichte und- Analysen zu verschiedenen Themenbereichen. Etwa 2/3 der 38 Wirksamkeitsstudien enthalten Daten einer Kontroll- oder Vergleichsgruppe. Teilweise finden sich entsprechend der klinischen Realität Mehrfachdiagnosen. 21 der hier zusammengefassten Studien hatten „klassische“ Gestalttherapie in mindestens einer Behandlungsbedingung. Weitere 17 Studien untersuchten Weiterentwicklungen der Gestalttherapie dar oder die Treatmentbedingung spiegelt die moderne psychotherapeutische Praxis wieder, in der gestalttherapeutische mit anderen therapeutischen Ansätzen kombiniert werden, wie bspw. in der prozess-erfahrungsorientierten Therapie.
Die Studien belegen die Effekte der Gestalttherapie für eine Bandbreite von klinischen Störungsbildern wie: Schizophrenie, sonstige psychiatrische und Persönlichkeitsstörungen [1], affektive Störungen und Angst, Abhängigkeiten, psychosomatische Störungen sowie für die Arbeit mit speziellen Gruppen und in der präventiven psychosoziale Gesundheitsvorsorge. Die Unterschiedlichkeit der Diagnosen dokumentiert die Einsetzbarkeit von Gestalttherapie auch bei schwierigen Störungsbildern wie sie sich bei psychiatrischen Patienten finden, oder auch bei Angststörungen, die in der Lehrmeinung der akademischen Psychotherapie eher als eine Domäne der behavioralen Therapie gelten.
Im Folgenden werden einige der wichtigsten Befunde zu einzelnen Störungsbereichen herausgegriffen und zusammengefasst.
- Psychiatrische Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen wie Schizophrenie und schweren Persönlichkeitsstörungen zeigten nach einer gestalttherapeutischen Behandlung signifikante Verbesserungen in Bezug auf die individuell diagnostizierte Hauptsymptomatik, Persönlichkeits-Dysfunktionen, Selbstbild und interpersonale Beziehungen. Die Behandelten selbst bewerteten die Therapie als sehr hilfreich. Einschätzungen des Pflegepersonals wiesen auf Verbesserungen in den Kontakt- und Kommunikationsfunktionen der Patienten hin.
- Die effektstärksten Studien finden sich zur gestalttherapeutischen Behandlung affektiver Störungen. Untersuchungen belegen die Wirkung der Gestalttherapie bei depressiven Symptomen, Ängsten und Phobien. Die Effektstärken der mit den gestalttherapeutischen Interventionen angereicherten prozess-erlebensorientierten Therapie (P/E) liegen je nach Erhebungsinstrument um 25% bis 73% höher als für relationale klienten-zentrierte Therapie.
- Gestalt- und Sozialtherapie für Drogenabhängige ergab eine langfristige Abstinenzrate von 70%, die sich bis zu neun Jahren nach der Entlassung stabil hielt. Die Ergebnisse dokumentieren weiterhin eine Verminderung von depressiven Symptomen und eine verbesserte Persönlichkeitsentwicklung am Ende der Behandlung.
- In den Studien zu funktionellen Störungen berichten durchschnittlich ca. 55% der Patienten eine Verminderung von Schmerzen nach der Gestalttherapie. Die Untersuchungen belegen zudem eine starke Reduzierung ihrer Medikamenteneinnahme.
- Weitere Studien belegen die Wirkung der Gestalttherapie für leistungsgestörte Schüler, Eltern, die ihre Kinder als Problemkinder begreifen, Paare mit Kommunikationsstörungen sowie - im Rahmen der psychosozialen Gesundheitsvorsorge - für alte Menschen mit dem Problem sozialer Isolierung und schwangere Frauen im Rahmen der Geburtsvorbereitung.
- Von 17 Untersuchungen, die katamnestische Erhebungen enthalten und in dem Abschnitt zur Evaluationsforschung berichtet werden, zeigt nur eine Studie mit - sehr kurzer Behandlungszeit - Evidenz für einen Rückgang der erzielten Verbesserungen. In den übrigen katamnestischen Daten, die in der Mehrzahl der Arbeiten 1/2 bis 3 Jahre nach Therapieabschluss erhoben worden waren, erwiesen sich die Therapieeffekte als stabil.
- Weitere umfangreiche Katamnesestudien mit mehreren hundert Patienten wurden in den vergangenen Jahren zur Gestalttherapie und zur erfahrungsorientierten Therapie durchgeführt. In der katamnestischen Studie von Schigl geben 63% der befragten Patienten an, sie hätten ihre anfänglichen Ziele in der Gestalttherapie vollständig oder größtenteils erreicht. Nach Beendigung der gestalttherapeutischen Behandlung sank die Einnahme von Psychopharmaka auf die Hälfte, bei Tranquilizern sogar auf ein Viertel. Die Patienten lernten in der Gestalttherapie Strategien, um mit einer wiederkehrenden Symptomatik erfolgreich umzugehen.
Von besonderem Interesse sind auch die jüngst von einer unabhängigen Forschungsgruppe ausgewerteten evaluativen Befunde der Kliniken der Wicker-Gruppe (Barghaan et al. 2002, Harfst et al. 2003). Die Autoren kommen auf der Basis von 117 katamnestischen Datensätzen zur Bewertung des Vergleichs von psychodynamisch-gestalttherapeutisch mit psychodynamisch und/oder behavioral behandelten Patienten zu folgender Bewertung des gestalttherapeutischen Vorgehens:
- „Die erreichten Verbesserungen entsprechen in den verschiedenen psychosozialen und körperlichen Maßen Veränderungen von zumeist großer Effektstärke. Im Vergleich zu den anderen Kliniken der Wickergruppe zeigen sich hier sogar überdurchschnittlich hohe Effektstärken, was aber auch mit der längeren mittleren Behandlungsdauer [2] der Patienten in der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatik zusammenhängen kann. Die Stabilität der erreichten Behandlungserfolge über den Entlassungszeitpunkt hinaus erscheint insbesondere bei den psychischen Beschwerden ausgesprochen zufrieden stellend.“ (Berghaan, Harfst, Dirmaier, Koch & Schulz 2002, S. 31).
[1] Entgegen früherer Lehrmeinung erweist sich Gestalttherapie als geeignet für die Arbeit mit stark beeinträchtigten Patienten. Vorausgesetzt werden muss eine therapeutische Stilmodifikation, in der weniger polarisierend und emotional aktivierend, dafür persönlichkeitszentriert stabilisierend und strukturaufbauend gearbeitet wird (vergleiche Hartmann-Kottek 2004).
[2]Die Behandlungsdauer war an dieser Abteilung um durchschnittlich knapp 1 Woche länger als an den anderen untersuchten Abteilungen, was die Autoren auf die andere Kostenträgerzusammensetzung zurückführen.
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